Polnische Fragmente
Ni e d e r s c h l e s i en , um 1 9 0 0
Graf Schaffgotsch, po polsku hrabia Schaffgotsch, nur wenige Minuskeln von einem
Schafgott entfernt, dennoch reichte es nicht zum Pan, zum Hirtengott reichte es
nimmer, die von Schaffgotsch stellten seit Hunderten Jahren den Herrn über Schäfer
und Bauern, bis hin zu den ärmsten Webern.
Der amtierende Graf blieb bis 1945 Grundherr des schlesischen Riesengebirges,
genauer, von Niederschlesien. Auch besaß er einige Kohlegruben in Oberschlesien und
war ein historischer Gegenspieler des Berggeistes Rübezahl, Liczyrzepa.
Während dieser sich gern als Mönch, als Riese oder als Männlein, auch als Tier den
Leuten gezeigt hat, die Wanderer neckte, die Armen beschenkte, Unwetter schickte, die
Schätze bewachte und seine Rüben zählte, verdankte er diesen Namen nach anderen
quellen auch seinem „Rübenschwanz“, in einer älteren Mundart „Rübenzargel“
genannt. - Ob Graf Schaffgotsch vergleichbare Qualitäten besaß, scheint mir nicht
gesichert; eines ist gewiss, Reichtum macht jeden Mann sexi.
Der Graf und der Riese beherrschten die Landschaft, die Kinderzeit meiner Mutter, die,
wie man sagte, arm aber sauber auf den Wiesen und Feldern im romantischen Bobertal
aufwuchs. Beim Gänsehüten, beim Hüten der Kühe blickte sie zur Schneekoppe auf,
zum höchsten Gipfel des Riesengebirges am südlichen Horizont.
Die konkav gebogene Silhouette des langen, schmalen Gebirgszugs erklärt dessen
polnischen Namen: kark, polnisch Schulter, nosze, die Trage. Karkonosze erschien den
polnischen Bewohnern der Gegend als Gebirge, das ihre Not und das Elend auf seinen
Schultern trug - und dem Grafen die Arbeit abnahm.
Auch die deutschen Siedler wurden nicht reich, von Ausnahmen abgesehen. Doch die
Schlesier lebten stets in der Hoffnung, es könne nur besser werden. Ihre Volkskunst
lehrte sie singen. Knechte und Mägde, Bauern und Schäfer, Müller, Schreiner und
Schlosser, sogar die Bäckerburschen mit ihren treuen Mädchen sangen aus vollem
Herzen:
„Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein
herrlich ist dies Stückchen Erde, denn ich bin ja dort daheim…“
Für mich war Graf Schaffgotsch nichts anderes, als ein silberner Kaffeelöffel,
schwärzlich, klein und gewichtig, der Tauflöffel meiner Mutter, den ein runenartiges,
fein ziseliertes S wie Schaffgotsch zierte. Jeder Täufling der Grafschaft bekam ihn als
Mitgabe in die Hand. Dieses einzige silberne Ding im Haus erzog, mit Eifer geputzt, die
Besitzerin spielerisch leicht zu hausmädchenhaftem Geschick, lehrte Sauberkeit,
Anstand, silberne Löffel zählen. In Kalkdorf bei Berlin, Mitte der 1950er Jahre probierte
ich, damit zu essen. Meine Mutter lachte mich aus. Jeder, der dies versuchte, tat es in
sehr kleinen Bissen, schluckte wie nebenbei sein Maß Bescheidenheit. Wer den Löffel
dagegen nur ansah, fühlte sich mit der Herrschaft verbunden, wurde ein wenig geadelt,
gedieh zu einem armen, oft aus Not in die Fremde geschickten, aber sangesfrohen und
heimatbewussten schlesischen „Grafenkind“. - Im „Schlesierlied“ heißt es weiter:
„Als ich einst ins Land gezogen, ha’n di Berg mir nachgesehn
mit der Kindheit, mit der Jugend, wusst selbst nicht, wie mir geschehn:
Du mein lie-hi-bes Riesengebirge, wo die Elbe so trau-hau-lich rinnt,
wo der Rübezahl mit seinen Zwergen heut noch Sagen und Märchen spinnt
Riesengebirge, Deutsches Gebirge, meine lie-hi–be Heimat du!“
Die Tatsache, dass die Familie Friedrich, der meine Mutter entstammte, meine
Großeltern, ihre elf Kinder in einer Berglandschaft lebten, die schon zu Polen gehörte,
als ich geboren wurde, fasziniert mich bis heute. Auf allen Familienfeiern wurde davon
erzählt; viele fremde Orte und Zeiten, Landschaften wurden lebendig, auch die
Kinderzeit meiner Mutter. Sie aber war Anfang der 1960er Jahre bereits nicht mehr am
Leben; ihre Geschwister, soweit ich sie kennen lernte, hatten nach dem Ende des
Krieges, nach ihrer erzwungenen Flucht die Erinnerungen verdrängt.
Viele Jahre später, als auch die letzten von ihnen zu verdämmern begannen, stiegen
sanfte, dramatische Kindheitsbilder aus dem niederschlesischen Dorf in ihren
Gedächtnissen auf.
Als 1913 der Hausarzt das vorletzte der Geschwister Friedrich packte und in die Ecke
warf, es hatte kaum Leben in sich, fing es endlich zu schreien an. Der Arzt aber
schnaubte wütend: „Da hätte das Balg schon tot sein können, und nun lebt das doch
noch!
Das rücksichtslose Mitleid, mit der Kinder Anfang des letzten Jahrhunderts ins Leben
geworfen wurden, stärkte in Hedwig den Trotz, wurde zum festen Willen. Da ich Martha
längst nicht mehr fragen konnte, wurde ihre jüngere Schwester meine wichtigste
Zeugin. Sie ist heute Sechsundneunzig und hat mir viel erzählt; wie viel hat sie mir
verschwiegen?
Von Flucht und Vertreibung erfuhr ich wenig; zu jener Zeit waren die Schwestern längst
schon in der Großstadt, im „Sündenbabel Berlin“, wie Mutter Friedrich sagte. Sie sagte
es noch in der Nähe von Bremen, wo Pauline und Robert, die Eltern mit Emilie, der
ältesten Tochter nach ihrer Vertreibung aus Schlesien, dem Verteilungsschlüssel
gehorchend, Asyl gefunden hatten, drei von acht Millionen. Das schlesische Haus blieb
verwaist zurück; die Zwangsumsiedler aus Polens Osten, der seit Hitlers und Stalins
Geheimpakt zur Sowjetunion gehörte, haben es wohl übernommen.
Schlesischer Winter
Im kargen Haus schreit allein die Tür
der Bauer mit Frau und Kindern zog aus
nur die Angst blieb hier
Sie hielt die Klinke dem Nächsten offen
der kam aus dem Osten, ohne zu hoffen
Er übernahm die tägliche Pflicht
das, was er suchte, fand er nicht
Der Boden brach und leer die Kammer
nur Kinder und Frau und Maria
und all der Jammer
und all die Not schrie hungernd im Stall:
Herr Jesus, es war, es war einmal!
Die Jungen verstehn nichts
die Alten sind taub
und über die Gräber aller Christen
verstummen zweisprachig sämtliche Flüche
weht gleichgültig gleich welkes Laub
Der Schnee aus den Bergen, das ist ein Frieden
wie er diesem und jenem nur selten beschieden
und in der Bober zerbricht das Eis
Unter den Frösten krampft jedes Herz
nur alte Geschichten machen noch heiß
nur Rübezahl steigt auf den Winterberg
dort trifft er pan Armut -
wer weiß schon, wer weiß
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Wir waren eine seltene, sehr gemischte Künstlergemeinschaft. Mir gegenüber saß Ingo,
der Bayer, dann Maggie, die Schwäbin aus Polen, neben Piotr ich selbst, ein Preuße mit
schlesischem Herzen. Niemand von uns benahm sich daneben, und doch gab es
zwischen uns dreien, die von hier aus gesehen im Westen lebten, und Piotr eine Kluft.
Sie war Jahrhunderte tief und drohte, mit jedem deutsch–polnischen Satz von neuem
aufzubrechen. Dank Maggie verlief der Abend friedlich, und die Lesereise ging weiter.
Statt zu schlafen grübelte ich; die Rolle der deutschen Schlesier, besonders, wenn es
ums letzte, blutigste Jahrhundert ging, war keine glanzvolle Rolle, was immer auch
meine Verwandtschaft über „die Polen“ sagte.
Tatsache war, das deutsche Reich nahm die Schlesier immer dann ernst, wenn Land
und Leute kriegswichtig wurden. Man brauchte schlesische Kohle, junge Bauern, gute
Soldaten, und an der polnischen Grenze zuverlässige Leute.
Hitler verschaffte den Deutschen Arbeit, den Polen zunächst wohl auch, im Bergbau,
der Stahlindustrie, in der expandierenden Rüstung. Der „Bund deutscher Osten“
ersetzte inzwischen die slawischen Namen der schlesischen Orte durch neue oder sehr
alte, auf jeden Fall deutschen Namen; Macht beginnt mit der Sprache.
Zirkel
Wer die Macht hat
Beschneidet das Wort.
Wer das Wort hat
Beschneidet die Wahrheit.
Wer die Wahrheit aber beschneidet
Der hat die Macht.
Z a k o p a n e , 1 9 6 8
Im Frühjahr des Jahres hatten wir, wie viele ostdeutsche Bürger den „Prager Frühling“
gefeiert. Wir fuhren in die tschechische Hauptstadt und träumten von einem
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Jetzt, im August saßen wir in Kraków auf dem
Königsschloss Wawel, tranken entspannt Kaffee. Die Teppichsammlung lag hinter uns,
vor uns die Landkarte für die Fortsetzung unserer Reise in Richtung Slowakei. Am
Nachbartisch saß ein Professor der Polonistik mit seinen Studenten von der Universität
Leipzig. Er fragte uns, ob wir nicht Zeitung lesen, kein Radio hören würden. - Diese
verflixte Sprachverwirrung! Wir ahnten nichts, doch erlebten wir die kommende
Katastrophe in den nächsten Tagen hautnah, mit den eigenen Augen. Russische und
polnische, rumänische und bulgarische Soldaten des „Warschauer Paktes“,
ausgenommen die ungarischen und DDR-Soldaten, sie blieben in Bereitschaft, waren
mit Panzern bis Prag marschiert und erstickten den dritten Versuch, den Sozialismus zu
retten, ihn menschlicher zu gestalten.
Nach dem Aufstand in Ostberlin 1953, nach der Revolution in Ungarn 1956 war über
Nacht dem Prager Frühling ein Warschauer Herbst gefolgt, nicht als Kulturereignis,
sondern als russischer Marschbefehl. Ihm folgten Verfolgung, Vertreibung, Flucht.
Wiederum traf es auch Deutsche, Urlauber und Touristen aus der DDR, die in den
südlichen „Bruderländern“ ihre Ferien verbrachten. Sie flüchteten jetzt in Panik, so
wurde es uns beschrieben, aus der CSSR. Wir aber tauschten problemlos unsere
tschechischen Kronen in polnische Zloty um und fuhren nach Zakopane. Wenige
Stunden später blickten wir dort erschreckt in graue, verstörte Gesichter hinter
zerschlagenen Autoscheiben. In ihren zerkratzten „Wartburgs“, die Windschutzscheiben
der „Trabbis“ zerschlagen, flohen die Bürger der DDR hastig über die Berge, retteten
sich nach Polen, rollten eilig an uns vorbei. Wir bestaunten verbeulte Blechkarossen,
graue Papplimousinen, mit roter Farbe beschmiert, dem Rot der Arbeiterfahne. Es
versprach, so hatten wir es gelernt, allen Klassengenossen brüderliche Solidarität. - Wir
erschraken und sahen weg, wanderten aufwärts zum Morskie Oko, dem polnischen
'Meeresauge', das dunkel und klar und schweigsam zum Himmel blickte. Wir entdeckten
auf slowakischer Seite, uns genau gegenüber, unbeweglich und steil 'Pik Lenin', der
alles überragte. Wir starten ins bleigraue Wasser und schwiegen.
Und wir erholten uns in den Bergen vom nahe gewesenen Krieg. Die Ruhe am Morskie
Oko war uns sehr willkommen.
Das Meeresauge – Morskie Oko
Aus Felsen quillt ein Wasser, gleißend, stürzend
und dreifach tönend bricht es sich am Stein
und Licht, gebrochen, fällt ihm schimmernd nach
bis es sich sammelt, ruhig, still, ergeben
Ringsum die Felsen, weglos, schroff und leer
ein Adler nur, er kreist um einen Punkt
den niemand kennt, dort häuft sich Eis und Schnee
Und wartet seinen Winter ab, um endlich
sich selbst zu schwer, an seinem Glanz zerbrechend
tief in die Wasser spurlos zu versinken
Jetzt aber Stille, Herbst fast, grünlich gleitet
die Sonne ihren Gipfeln zu, im Schatten
der von den Bergen steigt, ruht schwarz der See
Ganz selten nur, aus unbekannter Tiefe
schimmert der Marmor wie ein altes Grab
’Doch tiefer noch als ich dehnt sich mein Schweigen’
so tönt versunken ein Gesicht herauf
Dann fällt der Wind, von seinen Himmeln schwer
und schwingt sich hoch, ein Silberlaut
erklingt auf dunkler Fläche - und vergeht
Ein Atem steigt, ein Fisch ans letzte Dämmern
und selbst die Wasser, von den Hängen stürzend
sie atmen Stille, und noch einmal blüht
am Ufer eine Farbe, bläulich, grün
Dort, wo die Felsen aus der Tiefe steigen
und ihre Berge treffen, streut vergessen
das letzte Licht Pastell auf ihre Spur
Dann wird es Nacht, der See, erstarrter Guss
von Blei liegt schwer und stumpf, ein altes Sehnen
ein Nebel geht verlassen drüber hin
Noch einmal öffnet sich die schwarze Tiefe
und wortlos tönt es: ich bin unergründbar
P o l n i s c h e Os t s e e , 1 9 8 8
Wie billig Polen zu haben war, das Land, die Mädchen, die Lebensmittel, die zollfreien
Zigaretten. Wir kauften Pilze und Beeren den Kindern am Straßenrand ab, kauften
Korbwaren in Stettin, Handarbeit zu Schleuderpreisen. Wir ließen zum Ärger unserer
Kinder die Jeans und die Schallplatten unbeachtet, fuhren nach Norden, zum Oderhaff,
rollten durch Heidekraut Richtung Wasser und befanden uns plötzlich, fast übergangslos
auf einer Autofähre; sie fuhr nach Swinemünde. Weiter ging es erneut übers Oderhaff
bis zur Halbinselhauptstadt Wollin, die Küste entlang bis Kolberg.
Die bunten Wiesen bei Kołobrzeg erinnerten uns daran, dass es auch in Deutschland
noch in den 1950er Jahren zahlreiche Feldblumen gab, bevor die Extensivierung der
„sozialistischen Landwirtschaft“, die Massenanwendung von Pestiziden wie DDT begann.
Hier gemahnte mich eine verlassene, rostige Eisenbahnstrecke an den Berliner Autor
Günther Bruno Fuchs und seinen „Bahnwärter Sandomir“. Die Fischbraterei in den
Badeorten wiederum bewies, dass die polnische Ostsee, anders als zwischen Wismar
und Wolgast, frei verkäufliche Fische barg. Die sauber geharkten Strände enttäuschten
dagegen sehr, so sah nach allem, was wir in Deutschland hörten, keine „polnische
Wirtschaft“ aus. Als wir jedoch einen Zloty, fünf Pfennige in Mark der DDR, für den
Strandgang bezahlen mussten, wussten wir es wieder, so sind eben nur die Polen, sie
machen aus allem Geld.
Auf der Wanderdüne von Lewa, Łeba, vierzig Meter hoch, mit freiem Blick auf die
Ostsee, erklärte uns wenig später ein properer (west)deutscher Tourist, bis heute habe
er nicht gewusst, wie schön die deutsche Landschaft hier im Osten doch wäre.
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Am Grünen Tor, Brama Zielona in der Danziger Altstadt, die eben zum Stolz der Nation
perfekt restauriert worden war, worauf man polnische Restaurateure gewinnbringend
durch Europa schickte, am Grünen Tor gelang uns endlich, heimlich versteht sich, und
wortlos die ganz private Demonstration unserer deutsch-polnischen Freundschaft. Wir
tauschten zum Schwarzmarktkurs etwa einhundert Ostmark in Zloty um; das war
clever, war einfach cool.
Wir nahmen das Bündel schmieriger Scheine und - fanden viel zu spät die sorgsam
geschnittenen, kaum weniger wertlosen Zeitungsschnipsel, clever, einfach cool.
Unsere Kinder befreundeten sich inzwischen mit Straßenkünstlern. Zwei Puppenspieler,
mit denen sie später noch jahrelang Briefe tauschten. Wir dämpften, enttäuscht wie wir
waren, diese Kinderfreundschaft; macht euch nur keine Illusionen, eines Tages sind sie
doch ausgereist, in die BRD, vielleicht auch gleich nach England. – Ein bisschen Neid
war dabei.
Ga s t g e s c h en k e , 1 9 8 8
Als wir nach drei Urlaubswochen an der polnischen Ostseeküste um Mitternacht die
„Brücke der Freundschaft“ in Frankfurt an der Oder passierten, satt und müde von
unseren Erlebnissen, von der Landschaft, dem Bratfisch am Strand, von den
preiswerten Pilzen und Beeren, als wir zur Geisterstunde die Grenze zur DDR
passierten, überfuhr meine so korrekte Frau den unübersehbaren weißen Strich. Der
zwang die Blicke der Autofahrer hinüber zum „Häuschen klein, meine lie-hi-be Heimat
du“, zur Pass- und Zollstation auf DDR-Hoheitsgebiet. - Die polnischen ZÖLLNER
schliefen.
Ohne zu überlegen, lenkte die Frau den Wartburg rückwärts, doch mit voll beladenem
Hänger gelang es ihr einfach nicht. Die wachsame Zöllnerin winkte lässig und befahl
uns zurück vor den Strich, der hier als Staatsgrenze galt. Ich knirschte mit den Zähnen.
Selbst Wilhelm Tell hatte wenigstens einen Hut zum Grüßen, wir kapitulierten bereits
vor einem weißen Strich!
Steif stand die Zöllnerin da, Staatsmacht von Kopf bis Fuß. Wir sprangen heraus und
weckten die Kinder, die schlaftrunken reagierten. Sie mussten helfen, den Hänger zu
lösen, er hatte sich verkeilt. Endlich rollte das Auto zurück, der Hänger per Hand
hinterher und wurde angekuppelt. Dann standen der Wagen und wir am
vorgeschriebenen Ort, linientreu ausgerichtet; die Kontrolle konnte beginnen.
Wer aus Polen kam, wo noch immer, mit wachsendem Erfolg die Solidarność spukte,
war potentiell verdächtig. Die DDR-Personalausweise verschwanden sofort im Häuschen
klein. Hoheitsvoll trat die Zöllnerin vor. Sie hatte wenig von Rübezahl, aber sie zählte
genau: wie viele Gastgeschenke, welcher Art und warum, vor allem, warum so wenig;
keine Zeitschriften, keine verbotenen Bücher? – Sie wollte es nicht glauben.
Guten Gewissens verneinten wir. Dabei saß der Jüngste noch immer im Wagen.
Er schlief und bewachte harmlose, ganz unpolitische Konterbande, ein Dutzend
kristallener Gläser. Die Einfuhr war verboten, doch der Sozialismus war davon nicht
bedroht.
Nun verlangte die Zöllnerin ernsthaft, das Blechdach vom Hänger zu nehmen; schon kramte
sie darin herum. Sie wühlte - jasna cholera! - in unseren siebenundsiebzig, fast
ausschließlich schmutzigen Sachen; Schmutzwäsche war reichlich vorhanden nach drei
Wochen Autocamping. Meine Frau stand daneben und schnaubte hörbar, dann hatte sie eine
Idee. Plötzlich hielt sie der Zöllnerin kurz entschlossen eine Tüte unter die Nase, gefüllt mit
gebrauchten, lange gelagerten, gut gereiften schmutzigen Socken.
Die Zollkontrolle brach ab, wutschnaubend verließ uns die Zöllnerin. Wütend stopften wir
alles zurück in unseren Autoanhänger, knallten den Deckel drauf und fuhren ab, um
einhundert Meter weiter entnervt noch einmal zu stoppen; wir hatten etwas vergessen, die
Personalausweise.
Da n z i g , d i e Dr i t t e , 2 0 0 5
Wieder fuhren wir bis nach Danzig, diesmal von Lübeck über Stettin, mit einem
polnischen Kleinbus, auf einer Lesereise mit dem Lyrikbrücken-Projekt. Zu unserer
Sopoter Dunkellesung in den Sprachen finnisch-polnisch-deutsch schrieb ich folgende
Verse:
Wasser und Wüste bei Lewa
Mühsam herauf aus dem Gestern
an den Füßen Schlamm, auf den Zungen Geschichte
pommersch, kaschubisch, polnisch und deutsch
Erfahrung bedeutet hier Flucht
Deutsche Ritter rosten bei polnischem Adel
brauner Sumpf, roter Sumpf, faulige Reden
Flüchtlinge hin und her
in der Schwärze des Wassers
ersticken die Kiefernwurzeln
Noch heute sterben die Bäume
ihre Kronen verschüttet der Sand
der stetige Wind von der See
der Kamm der Wanderdüne
An ihrer gefräßigen Seite
steigen wir aus der Tiefe der ZEIT
vierzig Meter hoch, vierzig Jahre hinauf
passieren im Passgang die Pfähle
Wegzeichen durch die Wüste
Das Heute wäre sonst richtungslos
aber was für ein Blick in die Weite
hinter den Horizont – zeige ihn deinen Kindern
Sandkörner, Myriaden davon, schlucken die zwei Milliarden
Pulse unseres Lebens, das wir historisch nennen
Fort aus Geschichte und Gegenwart
durch das Sandmeer zur Wasserwüste
Serpentinen hinab zum Strand
vor uns liegt ruhig das Meer
das zukünftig Unbegrenzte
Landschaft, geformte Zeit
gestern der Sumpf
heute die Wüste
morgen gewiss die Ostsee
Ihr Wasser, das vielsprachig schweigt
pruzzisch, pommersch, kaschubisch, deutsch
redet Heute polnisch
übermorgen vielleicht
europäisch
© Bernd Kebelmann, aus dem Manuskript „Polnische Fragmente“; Dezember 2008
Zum Download: „Polnische Fragmente“
Stand: Oktober 2024 |